Daniel Kempin über Lieder, Leben und eine Vision – Konzert in der Alten Synagoge in Kestrich am 28.9. um 19:30 Uhr
„Es kann Gutes entstehen, wenn Religionen sich vertrauensvoll und offen zusammentun“
Thomas Beer21.09.2023 ts Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Mit Daniel Kempin hat das Organisationsteam der Reihe „ojfn weg - Jüdisches Leben im Vogelsberg“ zum Abschluss der Veranstaltungen einen Musiker, Lehrer und so begeisternden wie begeisterten Menschen für ein Konzert in der Alten Synagoge in Kestrich gewinnen können. Kempin, der in Frankfurt als Chasan (Kantor und Religionsgelehrter) in der Jüdischen Gemeinde wirkt, tritt seit vielen Jahren mit Liedern der Religion auf, für die er sich bewusst entschieden hat, deren Melodien und Texte ihn ganz einnehmen. Am 28. September möchte er seine Begeisterung für jüdische Lieder mit dem Publikum in Kestrich teilen. Mehr zu seiner Musik und seiner Motivation verriet er im Interview.
Herr Kempin, Ihr Musikprogramm heißt „ojfn weg – auf dem Weg“, das Organisationsteam im Vogelsberg hat sich diesen Titel gleich für eine ganze Veranstaltungsreihe ausgeliehen. Was verbinden Sie damit?
Daniel Kempin: „ojfn weg“ ist der Titel eines jüdischen Liedes, in dem es tatsächlich ganz konkret um den Weg zum Erwachsenwerden geht – mit all seinen Schwierigkeiten. Ich fasse den Begriff weiter – als Lebensweg, aber auch als historischen Weg der Juden, wie er in der Thora zu lesen ist: Von Abraham über Moses, die Wüstenwanderung, die Propheten – bis in unsere jüngste Vergangenheit und Gegenwart. Die Lieder, die ich in diesem Programm spiele, reichen vom Mittelalter bis heute und sind musikalische Zeugnisse von kleinen Begebenheiten und großen Zäsuren.
Handelt es sich bei den neueren Liedern dann auch um überlieferte Lieder und Stücke anderer Autoren und Komponisten oder sind auch eigene Stücke von Ihnen dabei?
Es sind Stücke von Komponisten und Dichtern, die mir sehr gefallen, die etwas in mir bewegt haben, Volkslieder zum Teil bekannter Autoren. Durch meine Interpretation eigne ich sie mir an und teile dies mit dem Publikum. Es wird eine bunte Auswahl an Stücken sein, an Stimmungen, auch an Sprachen: Jiddisch und hebräisch werden zu hören sein. Daher werde ich dem Publikum einiges zu den Stücken erläutern, sodass die Gäste wissen, in welchem Kontext die Lieder stehen.
Darf sich das Publikum auch auf aktuelle Lieder freuen?
Sicher. Es wird ein Lied dabei sein, dass die aktuellen politischen Sorgen in Israel thematisiert, und auch ein Lied aus der Ukraine, das ich erst jetzt vor dem Hintergrund des Krieges entdeckt habe. Die Ukraine war ja ein bedeutendes chassidisches Gebiet.
Sie verfügen über einen großen Schatz an Liedern. Haben Sie einen Lieblingskomponisten oder –dichter?
Mordechai Gebirtig ist für mich von großer Bedeutung. Er war als Dichter, obwohl er in Krakau lebte, schon in den Zwanzigerjahren in den USA bekannt. Komponiert hat er auf einer Hirtenflöte spielend und ein Freund musste die Noten übertragen. Seine Lieder sind sehr berührend, und ich durfte im Auftrag des Holocaust Memorial Centers in Washington eine CD mit Gebirtig-Stücken aus dem Krakauer Ghetto aufnehmen, das „Krakow Ghetto Notebook“. Gebirtig wurde dort 1942 erschossen.
Sie wurden in Wiesbaden geboren, ihre Mutter ist Christin, weil sie als jüdisches Kind in Nazi-Deutschland konvertiert wurde und so – versteckt in einer Klosterschule - überleben konnte. Sie sind daher in der christlichen Tradition aufgewachsen. Wann und wieso sind Sie zum Judentum zurückgekehrt?
Als Dreizehnjähriger erfuhr ich erstmals von meiner jüdischen Herkunft. Als Sechzehnjähriger habe ich dann jiddische Lieder entdeckt und begonnen, mich mit meiner jüdischen Familienkultur auseinanderzusetzen. Meine Mutter hatte ihre jüdische Religion stets als Bedrohung erlebt und blieb daher Christin. Ich selbst bin als Sohn einer jüdischen Mutter auch als Jude geboren und habe nach großem inneren Ringen die Entscheidung meiner Großmutter und meiner Mutter für mich rückgängig gemacht. Ich habe dann Judaistik in Frankfurt und Jerusalem studiert und das Jiddische in Großbritannien und Israel erlernt.
Vor diesem Hintergrund sind Sie auch seit Jahrzehnten interreligiös unterwegs. Sie sind Mitglied des Rates der Religionen in Frankfurt und Mitbegründer des Interreligiösen Chors Frankfurt. Kann Musik Grenzen überwinden?
Interreligiosität spielt in unserer Familie natürlich eine große Rolle: Meine Mutter war Kirchenmusikerin und feierte oft direkt im Anschluss an einen Gottesdienst den Schabbat in der Synagoge. Ich selbst bin seit vierzig Jahren im interreligiösen Dialog und bin einer der ersten Musiker, die in Deutschland mit jüdischen Liedern aufgetreten sind und eine jüdische Perspektive vertreten haben. Im Interreligiösen Chor singen jetzt Juden, Christen und Muslime zusammen – ihre Lieder in all ihren Sprachen. Dieser Gesang drückt meine Hoffnung aus, dass etwas Gutes entsteht, wenn die Religionen sich vertrauensvoll und offen zusammentun. Das ist meine Vision und mein Anliegen.
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Der 28. September startet in Kestrich bereits am Nachmittag um 16 Uhr mit einer Gesprächsrunde in der Alten Synagoge Kestrich, an der sich Menschen beteiligen, die aus verschiedensten Kontexten heraus mit dem Judentum im Vogelsberg zu tun haben, darunter der Architekt Josef Michael Ruhl, Ernst-Uwe Offhaus vom Verein Historisches Feldatal, Wolfgang Hengstler (Vorsitzender christliche-jüdische Zusammenarbeit, Fulda), Jana Tegel, (Jüdische Gemeinde, Fulda) l und Daniel Kempin, Kantor der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt/Main. Hierzu ist der Eintritt frei.
Um 19:30 beginnt dann das Konzert von Daniel Kempin in der Kestricher Synagoge. Die Karten für 12 Euro gibt es in den Buchhandlungen Lesenswert (Alsfeld) und Lesezeichen (Lauterbach).
Die Reihe wird organisiert vom Evangelischen Dekanat Vogelsberg und der Katholischen Erwachsenenbildung Oberhessen und gefördert von den veranstaltenden Institutionen sowie dem Bundesprojekt Demokratie leben! und der Interkulturellen Woche.
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