Seit fünf Jahren in Schottland: Reverend Johannes Wildner über Gelassenheit und Gottes Wege
„Gott zieht uns und lässt uns ziehen“

10.09.2025
ts
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Dumfries ist mit ca. 33.000 Einwohnern die größte Stadt im Südwesten von Schottland. Über den Fluss Nith spannt sich seit dem Mittelalter die schöne Devorgilla-Brücke. In den kleinen Gassen und malerischen Vierteln der Stadt finden sich nette Geschäfte sowie einladende Restaurants und Cafés. Zudem ist Dumfries ein guter Ausgangspunkt zur Erkundung des ruhigen und reizvollen schottischen Südwestens, in dem sich zahlreiche bekannte Sehenswürdigkeiten finden. Genau hier lebt seit vier Jahren Pfarrer Johannes Wildner. 2020 wanderte er mit seiner Frau Käthe Wildner und den vier Kindern von Schlitz nach Schottland aus – ein Wagnis in unsicheren Zeiten, das sich für die Familie als ein Segen herausgestellt hat.
Strahlend nimmt Johannes Wildner zum Interview vor dem Bildschirm Platz. Es geht ihm gut, nach wie vor, und wie man hört, auch der Familie, die ganz und gar in der neuen Heimat angekommen ist: Wildners ältester Sohn studiert in Aberdeen Theologie und ist inzwischen mit einer Schottin verheiratet. Der andere Sohn studiert in Edinburgh, die jüngste Tochter zieht es an die Universität nach Glasgow. Die älteste Tochter lebt auf einer der schottischen Inseln mit den Menschen, den dortigen Gegebenheiten und der Natur. „Alles hat sich wunderbar gefügt“, sagt der Pfarrer, der hier, in der Church of Scotland, „Minister“, also „Diener“ ist. Sein eigentlicher Title ist „Reverend“, doch den nutzt in Dumfries und Umgebung niemand. Für die Menschen dort ist er einfach Johannes.
Nach seinem Start in Tullibody, der Eingewöhnungszeit gewissermaßen, wurde der Geistliche 2021 „anstellungsfähig“ und erhielt eine eigene Gemeinde in Dumfries. Wobei die Gemeinde auch ihn erhielt: In der Church of Scotland nämlich wählen alle Mitglieder ihren neuen Pfarrer und gegenseitig verpflichten sie sich einander. Eine Verbindung fürs Leben vielleicht oder zumindest für eine lange Zeit. Die Verbindung von Pfarrer und Gemeinde beruht auf großer Gegenseitigkeit, auf Augenhöhe. „Die Gemeinde wird hier nicht vom Pfarrer getragen, sondern von den Menschen und dem Heiligen Geist“, sagt Johannes Wildner. Gut für den Pfarrer: Die Verwaltungsarbeit wird hier von einem ehrenamtlichen Gremium übernommen, sodass der Reverend das tun kann, wofür er gekommen ist: theologisch arbeiten, Seelsorge anbieten, Gottesdienste halten. Und das wirklich jeden Sonntag und unter der Woche mitunter auch. „Natürlich gibt es auch hier Vertretungsmöglichkeiten, zum Beispiel die Pfarrer im Ruhestand, die gerne noch weiter aktiv sind, aber mir fehlt etwas, wenn ich einen Sonntag ohne Gottesdienst habe.“ Sonntags zieht es Johannes Wildner in seine Kirche und zu seiner Gemeinde, jeden Morgen lädt er die Menschen zum Morgengebet ein. Wöchentliche „Bible Studies“ stehen in seinem Kalender – er freut sich sehr, viel mehr Zeit für theologisches Arbeiten und damit auch für seine spirituelle Weiterentwicklung zu haben. Da kommt es ihm und seinen ehrenamtlichen Mitstreitern natürlich sehr recht, dass die Schotten keinerlei Hang zu übersteigerter Bürokratie haben. „Sie fragen wirklich, ob der Mensch für die Gesetze da ist oder die Gesetze für den Menschen. Und dann stellt man fest: Die Kirchen brechen ohne große Verwaltung nicht zusammen – im Gegenteil.“ Im deutschen Verwaltungs- und Versicherungswesen – nicht nur bei den Kirchen – erkennt Wildner ein großes Sicherheitsstreben, das den Schotten eher fremd ist.. Die Erfahrung des Pfarrers ist, dass die Menschen einfach auch mit weniger Perfektion sehr gut leben und alles doch irgendwie läuft, weil alle es wollen. Und weil sie wissen: Es hängt an uns selbst!
Mit diesen neuen Erfahrungen, wie Kirche gelebt wird und auch der Alltag ganz anders ist, als man es in Deutschland kannte, haben sich die Wildners verändert: „Das war ja auch der Wunsch, deshalb sind wir aufgebrochen.“ Das Inselleben, sagt Johannes Wildner, schaffe Distanz zu alten Gewohnheiten. Hier könne die positive Energie der Menschen wirken, die Hilfsbereitschaft, die nötig ist, wenn man keinen großen Wert auf Komfort und schönen Schein legt: Bei Feierlichkeiten sei es besonders wichtig, dass alle Spaß haben, dass getanzt und gesungen wird. Da spiele es keine Rolle, ob die Location schön oder die Dekoration besonders ist. Oder beim Fußball: „Bei der EM zum Beispiel: Da sind sich die Schotten ihrer geringen Aussichten bewusst und feiern daher umso mehr. Sie haben einfach Spaß, auch wenn sie verlieren.“ Dass die Briten besonders sich selbst gegenüber einen großartigen Humor haben, mag der Pfarrer. „Sie lachen über ihre eigenen Fehler, und selbst bei Trauergesprächen gibt es das eine oder andere Lachen.“
Doch gerade hier liegt auch eine Schwierigkeit: Von der englischen Sprache, insbesondere mit ihren schottischen Eigenheiten, fehlen Johannes Wildner die letzten feinen Prozente, sagt er, die Super-Zwischentöne verstehe er nicht immer. „Aber Verständigung“, weiß er, „ist mehr als die reine Wortebene. Der Heilige Geist wirkt auch so – wie man an Pfingsten gesehen hat. Und das Ringen um Verständnis – beispielsweise der Bibel – ist ohnehin immer da – egal, wie gut man eine Sprache beherrscht.“ Ansonsten habe die ganze Familie gerade aus den anfänglichen Schwierigkeiten auch viel Kraft gewonnen und gelernt, dass sich stets eine Tür öffnet. „Man muss gar nicht so viel planen, sondern kann sich mitreißen lassen und leben.“ Für den Theologen ist dies die Kraft des Glaubens: ohne Ängste und ohne Erwartungen sein.
Eine Fusion hat der Pfarrer auch schon erlebt: Anfang dieses Jahres wurden seine Stadtgemeinde „Maxwelltown West“ und die benachbarte Dorfgemeinde „New Abbey“ zu einer neuen Gemeinde vereinigt. Er war überrascht, wie schnell ein solcher Verwaltungsakt über die Bühne gehen kann und, wenn auf beiden Seiten der Wille zu pragmatischen Lösungen gut ausgeprägt ist. Jetzt ist Johannes Wildner Gemeindepfarrer von „Maxwelltown West and New Abbey Church of Scotland“.
Auch jenseits des Berufs ist das Leben von Johannes und Käthe Wildner, die als Sprachlehrerin arbeitet, ruhiger geworden. In der Freizeit genießen die beiden die großartige Natur, gehen in den Pub, nehmen am Country Dancing teil. Kurz nach seiner Ernennung zum Minister wurde Johannes Wildner in den ortsansässigen Rotary Club aufgenommen. „Die Menschen hier suchen sehr häufig das Verbindende mit anderen Menschen, nicht das, was trennt.“ Ein Grund, aus dem selten über Politik gesprochen werde: „Das entspannt enorm.“ Für den Pfarrer hat diese Haltung auch mit der keltischen Weisheit der Schotten zu tun, die Naturverbundenheit relativiere viel, meint er. In der Natur verspürt auch er noch eine viel tiefere Verbundenheit mit Gott und Gelassenheit.
Ob er und seine Familie – oder Teile davon – in Schottland bleiben? Die Liebe, die Johannes Wildner zu Land und Leuten entwickelt hat, könnte diesen Schluss zulassen, doch für ihn ist die Lebensreise immer offen: „Wohin sehne ich mich? Und wohin ruft mich Gott?“ Diesen Fragen will er auch weiter nachgehen und er weiß: „Gott zieht uns und er lässt uns ziehen.“ Mit Gott, so sagt er, sei man immer auf der Wanderschaft, und seine Wurzeln seien ohnehin nicht auf der Erde, sondern im Himmel. „Und dann kann man überall zu Hause sein.“ Wir werden sehen.
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